Dieser Beitrag soll aufzeigen, dass auch eine geringfügige Geschwindigkeitsüberschreitung mehr als nur ein Verwarnungsgeld nach sich ziehen kann. Er soll keinesfalls belegen, dass sich Unfälle vermeiden lassen, wenn man sich an die Verkehrsregeln hält.
Was passiert ist:
Ordnungsnummer 01 befuhr mit ihrem Pkw die Hauptstraße stadtauswärts.
01 benutzte den rechten von zwei Fahrstreifen in dieser Richtung, für 01 galt zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h (durch Vkz) und sie befand sich auf einer Vorfahrtstraße (durch Vkz).
02 befuhr mit ihrem KKR-Roller die von rechts einmündende Seitenstraße in Richtung Hauptstraße und beabsichtigte, auf diese nach rechts stadtauswärts einzubiegen. Für 02 galt durch Verkehrszeichen „Vorfahrt achten“.
Im Einmündungsbereich Hauptstraße/Seitenstraße kam es zum Zusammenstoß zwischen 01 und 02, durch den Aufprall wurde 02 zu Fall gebracht und gegen die Bordsteinkante geschleudert, wo sie vermutlich mit dem Rücken aufprallte (Zeugenaussagen)
Die Hauptanstoßstelle der 01 befindet sich in deren Fahrtrichtung rechts vorne.
Die Hauptanstoßstelle der 02 befindet sich in deren Fahrtrichtung links/mittig des Rollers.
01 Sachschaden (Polizeischätzung 3.500 €), leicht verletzt (Schock)
02 Totalschaden, schwer verletzt (stationäre Krankenhausaufnahme, Verdacht auf Rückenwirbelverletzung, Unterschenkelfrakturen/Trümmerbruch links, multiple Prellungen, mit dem Ableben war nicht zu rechnen)
01 gab an: Trotz sofort eingeleiteter Vollbremsung sei der Zusammenstoß nicht vermeidbar gewesen, 02 hätte quer auf der rechten Fahrspur gestanden (!). Ausweichen nach links sei nicht möglich gewesen, da ein LKW auf der linken Spur war (beides wird durch einen Zeugen bestätigt, der hinter dem LKW (näheres zum LKW nicht bekannt) links hinter 01 fuhr).
Interessant ist, dass der Zeuge, der links versetzt hinter 01 fuhr, auf die Frage nach der gefahrenen Geschwindigkeit angab, selbst „60“ gefahren zu sein und 01 sei genau so schnell gewesen (warum wohl?).
In der Folge stellte sich heraus, dass die 17-jahrige Rollerfahrerin tatsächlich querschnittgelähmt bleibt und bis ans Ende ihrer Tage auf den Rollstuhl angewiesen ist. In ihrer späteren Vernehmung gab sie an, dass ihr Roller plötzlich ausging, als sie Gas gab, um auf die Hauptstraße einzubiegen. Sie hätte 01 auch gesehen und eingeschätzt, problemlos einbiegen zu können, wenn der Motor nicht abgestorben wäre. Sie hätte noch versucht, mit den Füßen am Boden ihr Zweirad rückwärts zurück in die Seitenstraße zu drücken (erklärt die schweren Unterschenkelfrakturen).
So weit, was geschehen war. Die aufnehmenden Polizeibeamten sahen sich die Unfallstelle aufgrund des schweren Verletzungsbildes mit zu vermutenden, bleibenden Folgen, sehr genau an, fertigten eine penible, maßstabsgerechte Unfallskizze und sicherten zusätzlich die Spurenlage mit Lichtbildern. Sie fanden Bremsregelflecken, wobei ihnen der Bremsassistent der 01 sehr hilfreich zur Seite stand und den Beginn der Notbremsung mit zwei kurzen, aber deutlichen Blockierspuren der Vorderräder zeichnete.
Beide Fahrzeuge wurden zur technischen Begutachtung sichergestellt. Bei dem Roller der 02 wurde übrigens festgestellt, dass die Schwimmerkammer des Vergasers stark verschmutzt war und Fremdpartikel die Hauptdüse verstopften. Bei 01 wurden keine Mängel festgestellt.
In Absprache mit der Staatsanwaltschaft wurde ein Sachverständiger beauftragt, weil die Beamten aufgrund der ausgemessenen Bremsspur bereits den Verdacht hatten, dass 01 schneller gewesen sein könnte, als die erlaubten 60 km/h.
Was hat nun der Sachverständige gemacht?
Er hat dem Gericht dargelegt, dass der Unfall überhaupt nicht passiert wäre, wenn 01 die erlaubten 60 km/h gefahren wäre und so funktioniert das:
Anhand der von der Polizei ausgemessenen Bremsspur von 25,2 m Länge errechnete er unter Berücksichtigung von Fahrzeugtyp/Beladung, Bereifung und Fahrbahnzustand eine gefahrene Geschwindigkeit von 70 km/h und legte dabei eine mittlere Bremsverzögerung von 7,5 m/sq zugrunde.
Aus den 70 km/h errechnete er den Reaktionsweg (Wahrnehmen der Kollisionsgefahr, begreifen derselben und umsetzen in eine Vollbremsung, das ist anerkannt 1 Sekunde) mit 19,4 m.
Um diese 19,4 m „verlängerte“ er den Beginn der Bremsspur und legte damit den Reaktionspunkt fest, an dem 01 die Kollisionsgefahr wahrgenommen haben muss.
Nun berechnete er „rückwärts“ den Reaktions- und Bremsweg unter Zugrundelegung von 60 km/h und kam zu dem Ergebnis, dass zwischen Reaktionspunkt und Anstoßstelle 2,6 m fehlen, 01 also bei 60 km/h 2,6 m vor der Anstoßstelle zum Stehen gekommen wäre.
Es waren 10 km/h zu schnell, die eine junge Frau zum Krüppel machten und einem nicht viel älteren Mann das Leben ebenfalls zerstörten. Der Aufprall erfolgte mit 36,5 km/h und nicht mit 10/km/h ... das zum Thema, „was sind denn schon 10 km/h?“ Der Tacho wird allerdings mehr angezeigt haben, 75-78 schätze ich...
Wenn es zum Nachdenken angeregt haben sollte, hat es seinen Zweck erfüllt.